Japans Modell weltweit
Franz Rieder • Globalisierung (nicht lektorierter Rohentwurf) (Last Update: 20.05.2019)
Abenomics heißt das, was Japans Wirtschaft als Medizin aus der Krankheit, die als eine nationale Wirtschaftskrise diagnostiziert war, verordnet wurde. Sewit nunmehr über 25 Jahren bekämpft die Bank of Japan die Krise mit den stets gleichbleibenden Mitteln bzw. Instrumenten: expansive Geldpolitik, kreditfinanzierte Konjunkturprogrammen und Strukturreformen der Wirtschaft. Und seit dem Jahr 2013 stellen Experten eine deutliche Forcierung der Geldschwemme, das sog. Quantitativ Easing1.
Die beiden wichtigsten erwünschten Effekte: Wachstum der japanischen Wirtschaft und Steigerung der Inflation sind nicht eingetreten. Stattdessen ist die Staatsverschuldung nochmals explodiert, die Löhne sind im Sinkflug und die Verteilungsungleichheit wächst. Die Frage also ist: Wie hängt das alles mit der Geldpolitik zusammen?
Die Spatzen
schreien es mittlerweile vom Dach, billiges Geld erzeugt Blasen.
Blasen werden anfangs euphorisch begrüßt, um dann aus
hysterischem Taumel in bestürtzer Totenstarre zu fallen. Bereits
der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich
August von Hayek analysierte in seiner Konjunkturtheorie den
Zusammenhang zwischen billigem Geld, Überinvestition und
Spekulation.
Überinvestition in diesem Kontext beschreibt ein
Verhalten innerhalb der Wirtschaft, unter aktuell günstigen
Finanzierungskosten, die hauptsächlich auf günstige
Kreditzinsen basieren, Projekte und Marktaktivitäten
anzustrengen, die sonst wenig profitabel gewesen wären und auf
lange Sicht nicht tragfähig, da die Schuldendienste bei
steigenden Zinsen den Profit schmelzen, ja regelrecht verdunsten
lässt.
Auch wenn es vernünftige Gründe für die japanischen Zinssenkungen gab, vor allem nachdem mit dem Plaza-Abkommen, das das Handelsungleichgewicht zwischen den USA und Japan bereinigen wollte und der damit verbundenen starken Yen-Aufwertung, die letztlich die japanische Wirtschaft in die Krise schickte, zeigte sich schnell die Kehrseite solcher geldpolitischer Instrumente. Zinssenkungen bremsen eine starke Währungsaufwertung und verbilligen Produktionskosten, was besonders den exportorientierten Unternehmen hilft.Aber wie wir sahen, setzen eben jene Zinssenkungen auch einen Spekulationsboom frei, den niemand wirklich will.
Und ein Effekt ist dabei aus heutiger Sicht essentiell. Das billige Geld in einem Land, hier Japan, trägt erheblich zur Blasenbildung in einem anderen Land bzw. einem anderen Wirtschaftsraum, Z.Bsp. Südostasien, bei. Kapital wurde zu niedrigen Zinsen in Japan aufgenommen und ins Ausland transportiert. Kapitalzuflüsse aus Japan haben maßgeblich einen Überinvestitionsboom in Südostasien (1993-97) gespeist. Auch an den wiederkehrenden Boom-Phasen auf dem US-Aktienmarkt und am chinesischen Wirtschaftswunder war japanisches Kapital beteiligt.
Man verabreichte jahrelang immer die gleichen Medikamente, aber billiges Geld und erhöhte Staatsausgaben konnten, wenn überhaupt, nur ganz kurzfristig Linderung bringen. Langfristig wurde der Patient immer kränker. Daran ändert auch nichts der schöne Glaube allenthalben an die magischen Kräfte keynesianischer Konjunkturprogramme. Das Beispiel Japan hätte Schulen sollen. Denn dort sieht man die Auswirkungen solcher Medikation.
Weder das Absenken der Leitzinsen von 8% im Mai 1991 auf 0% im März 1999, noch eine Zentralbankbilanz von stolzen 700% wie eine Staatsquote von 250% des Bruttoinlandsprodukts haben Japan die erwünschte Erholung gebracht. Notorisch wird übersehen, dass der Kern des Problems mittlerweile der Finanzsektor ist. Dort funktioniert das traditionelle Geschäftsmodell nicht mehr. Die Nullzinspolitik hat nicht nur massiv die Differenz zwischen Kredit- und Einlagenlagenzinsen, aus denen sich Banken finanzieren, von ca. 3,5 Prozentpunkten auf ca. 0,5 verschoben, sie hat gleichzeitig auch die Kreditnachfrage vieler Großunternehmen drastisch reduziert, weil geringe Zinsen und geldpolitisch getriebene Abwertungsphasen des Yen die Unternehmensgewinne erhöhten und eine Kreditnachfrage überflüssig machten. Wir erkennen an dieser Stelle, dass das Interesse von Banken nicht unbedingt deckungsgleich ist mit dem Interesse von Unternehmen, die die Dienste von Banken am liebsten nur für die eigenen Interessen nutzen möchten – wir besprechen diesen Punkt später ausführlicher.
Mit der schrittweisen Aushölung des traditionellen Kreditgeschäfts wurden die Banken zunehmend von der kostenlosen Liquidität der Zentralbank abhängig und im Zuge dessen kam es zu einer vermehrten Anlage dieses 2ungebrauchten“ Kapitals in Staatsanleihen. Man spricht in diesem Zusammenhang nicht ganz zu unrecht von „Zombie-Banken“.
Kleine und mittelgroße Unternehmen blieben auch weiterhin auf Kredite angewiesen und diesen, anders als in Deutschland, weniger renditestarkt, machte die Rezession besonders schwer zu schaffen, besonders durch ihre lokale Verankerung. Banken legten ein Tuch des Schweigens über die wahre Risiko-Situation der KmUs2, auch um nicht selbst wiederum in eine öffentliche Diskussion über Kreditrisiken bzw. faule Kredite in ihren Büchern zu geraten. Von eine symmetischen Information der Märkte kann in diesem Zusammenhängen offensichtlich auch keine Rede sein, die aber wichtig ist für das Funktionieren von Kredit- und Finanzmärkten.
Also wurden zu geringen Zinsen Kredite an die KmUs weiter gewährt, was die Literatur „nachsichtige Kreditvergabe“ nennt und in der Öffentlichkeit blühten zunehmend mehr immergrüne „Zombi-Unternehmen“3
Ausweg – Fall der Profitrate
Nach mehr als zwei Dekaden Druckerpresse und Keynes im Gleichgang ist überraschenderweise in Japan die Arbeitslosigkeit nicht angestiegen. An ihrem Höhenpunkt erreichte sie im Vergleich zu europäischen Staaten den Traumwert von 5,6% und liegt heute deutlich unter 4%; man spricht von Vollbeschäftigung. Den Gewinnrückgang hat man in Japan mit Lohnsenkungen beantwortet, um etwa 0,5% per anno pro Jahr. Die Profitrate sank, der private Konsum ging natürlich zurück, aber Entlassungen fielen aus und auch ein Ende der japanischen Wirtschaft steht, wenn aus, dann in den Sternen.
Wie wir angenommen haben, bestätigt sich in Japans ultra-lockerer Geldpolitik ein einhergehender, massiver Umverteilungseffekt. Aber diametral zur wissenschaftlichen Lehrmeinung fand dieser Umverteilungseffekt nicht über Inflation statt, die die Einkommensklassen unterschiedlich trifft, sondern innerhalb der Einkommensklassen selbst, denn anstelle einer Inflation traf Japans Konsum aufgrund einer Lohndifferenzierung eine Deflation.
Natürlich folgt einer Lohnsenkung auch ein Rückgang der Kaufkraft, aber das „Modell“ Japan zeigt, wie wichtig es ist, sich diese Kennziffern genauer anzusehen. Der Kaufkraftverlust traf vor allem die unteren und mittleren Einkommen und die risikoarmen Vermögensklassen wie etwa Spareinlagen und Staatsanleihen. Gerade diese risikoarmen Vermögen tragen nun den Hauptteil der Auswirkungen der politischen Fehlentscheidungen. Es betrifft immer die „breiteren“ sozialen Schichten und deren Vermögen wie deren Einkommen, da hier auch am meisten zu holen ist. Die Bank of Japan war auch bei der Senkung des Anleihevermögens extrem fündig, zumal und anders als in Europa den gigantischen Staatsschulden Vermögen in Staatsanleihen gegenüber standen; der Staat war fast ausschließlich bei seinen Bürgern verschuldet.
Deshalb ging und geht es auch jenen Japaners heute besser, die ihre Vermögen und Ersparnisse in etwas risikoreichere und vor allem ausländische Finanzmarktprodukte angelegt haben, etwa in US-Aktien, zumal gerade dieser Markt florierte. Ein anderer, recht gefährlicher Effekt für ein Staatsgebilde ist Korruption und Vetternwirtschaft. Man würde das weder in Japan noch in Europa heute so nennen wollen, wir tun das.
Große japanische Exportunternehmen, die nicht selten in den Händen japanischer Politikerfamilien liegen, profitierten von den immensen, als keynesianisch notwendig bzw. sinnvoll begründeten Konjunkturprogrammen, vor allem die, die am Bau-Boom in China teilhatten. Deren Angestellte traf der sonst so deutliche Lohnrückgang deshalb nicht und vergrößerte die Einkommensdifferenzierung in der japanischen Gesellschaft mithin.
Und eine andere Parallele zu europäischen bzw. deutschen Kriseninstrumenten findet sich im damaligen Japan in der Umwandlung von in Japan damals üblicher, lebenslanger Beschäftigung in Zeitverträgen mit geringer sozialer Absicherung, also der Ausweitung einer atypischen bzw. prekären Beschäftigung, die sich von etwa 20% auf 40% der Gesamtbeschäftigten verdoppelte.4 Mehrarbeit in Form nichtbezahlter Überstunden, Geburtenrückgang, drohende Altersarmut, Landflucht und Gentrifizierung sind nur einige der dramatischen Folgen dieser Politik in der so ausgleichsorientierten Kultur der japanischen Gesellschaft.
Die Politik sucht ihr Heil in der Aufstockung von Subventionen für die Wirtschaft und neuerdings zunehmen für die wirtschaftlich benachteiligten und älteren Gesellschaftsschichten. So nimmt der Anteil der Subventionen am sinkenden Steuereinkommen weiter zu und die japanische Staatsverschuldung hat den Spitzenplatz aller Industrienationen erreicht.
Die Bank of Japan kauft Staatsanleihen wie Gummibärchen und verkündet weiter keynesianische Notwendigkeiten wie ein Inflationsziel von 2% des BIP als Begründung solcher Kamikaze-Politik. Denn je mehr Anleihen gekauft werden, desto geringer die Inflation, desto höher die Einkommensdistribution. Der „logische“ Zusammenhang zwischen Quantitativ Easing und Inflation besteht nicht, aber gerade dafür soll ja die Zielsetzung und Rechtfertigung der „unabhängigen“ Notenbank-Politik sein.
Da die japanische Notenbank-Politik längst kein Privatissimo war, sondern direkte Auswirkungen auf die weltweiten Finanzmärkte hatte, melden sich vermehrt Stimmen des Unmuts aus anderen Ländern über diese Politik, vernehmlich lauter aus China. Denn von 2013 bis 2015 verlor der Yen gegenüber dem Yuan etwa 40% an Wert, was China wiederum zu diversen Abwertungsschritten gegen über Japans Währung zwang. Darüber hinaus und noch schädlicher sind die hohen und nicht gering spekulativen Kapitalzuflüsse, die zu einem großen Teil aus Japan nach China transferiert wurden, und dort wiederum maßgeblich am Auf- und Ausbau von Überkapazitäten im Exportbereich beigetragen haben sowie auch an der chinesischen Immobilienblase.
Das Risiko des Einbruchs im Exportsektor wie im Immobilien-Anlagebereich beunruhigt China enorm, zumal Japans weiterhin fließendes billiges Geld der Bank of Japan China, dessen Wirtschaft stark exportabhängig ist, weiterhin in Schwierigkeiten bringt. Und auch andere ostasiatische Staaten treibt die japanische Politik in eine Abwertungsspirale, die China nicht ganz unbeeindruckt und Japan die gewünschte Wirtschafts-Bilanzsanierung in weite Ferne rücken lässt.
Ausweg – nicht in Sicht
Ein „geordneter“ Fall der Profitrate wäre in den letzten zweieinhalb Dekaden japanischer Wirtschaft und Politik vielleicht besser gewesen, als das, was heute mit dem wenig schönen, aber durchaus die Sache vollends treffenden Ausdruck „Abenomics“ beschrieben wird. Darin verbinden sich Politik und Ökonomie unter dem politischen Primat auf höchst spezielle Weise, die ein Denken umschreibt, welches jeden Bezug zur wirtschaftlichen Realität, insofern sie sozialen Ausgleich, um nicht den Begriff Gerechtigkeit zu benutzen, anstrebt, verloren hat.
Die japanische Geldpolitik hat den Patienten weder geheilt, noch nicht einmal ruhig gestellt. Sie hat wirtschaftspolitisches Kamikaze veranstaltet, dem nicht nur nationale, sondern auch internationale Wirtschafts- und Finanzmarktstrukturen zum Opfer gefallen sind. Die Kosten dieser Politik sind für weite Teile der japanischen Bevölkerung, sowohl der erwerbstätigen wie der nicht-erwerbstätigen Teile immens.
Eine Rettung marktwirtschaftlicher Strukturen ist nicht gelungen; im Gegenteil. Protektionismus bis hin zu Vetternwirtschaft und Korruption haben sich ausgebreitet. Im Zerfall der großen Weltkonzerne sind die Triebkräfte der einstigen japanischen Form der Marktwirtschaft, Innovationskraft und internationale Wettbewerbsfähigkeit, stark versandet. Eine schleichende Verstaatlichung von Banken, großen Teilen der Industrie und des Nachfragesektors generell durch Umverteilung und Differenzierung von Löhnen und anderen Einkommensarten wirkt sich geradezu bremsend auf den Wettbewerb und auf die Erneuerung der Wirtschaft aus sich selbst heraus aus.
Verheerend sind die Anschläge auf die Verbindung von Zinsen und Haftung. Die uralte Gewissheit, dass, wer einen Kredit nimmt, auch für die Rückzahlung haftet, dass also ein „Vertrag“ zustande kommt, dessen Verbindlichkeit in der Summe und dessen Risiko sich im Zins ausdrückt, ist dahin. Zinsen signalisieren in Japan und seit der Bankenkrise in den USA und Europa längst kein Risiko mehr, nicht mehr überall und in jedem Fall, und von einer verbindlichen Haftung, wie es die Privatwirtschaft zweifelsohne und unbedingt als Bestandteil eines haftungs- und justiziablen Vertrages zwischen ehrbaren Parteien voraussetzt, ist keine Rede mehr.
Und so trennt auch der Zins nicht mehr gute von schlechten Schuldnern, nicht mehr gute von schlechten, sprich riskanten Investments. Das erinnert nicht zufällig an staatsmonopolitische Wirtschaftssysteme. Es ist nicht der tendenzielle Fall der Profitrate, sondern die Tatsache, dass eine sehr gut ausgebildete, höchst arbeitsame und produktiv arbeitende Bevölkerung nun seit mehr als 25 Jahren im Hamsterrad läuft, das sich einer anmaßenden und ineffektiven Abenomics verdankt, dass staatsmonopolistische Gedanken inmitten einer kapitalistischen Marktwirtschaft laut werden.
Konträr zur veröffentlichten Expertise, folgt das niedrige Zinsniveau nicht der Logik einer Wachstumsschwäche, die in der Verschiebung der Alterspyramide, also mithin in den geburtenschwachen Generationen eine Ursache findet, sondern just umgekehrt einen Sinn ergibt. Man kann am japanischen Modell leicht erkennen, wie weit eine Politik des billigen Geldes umfassende Auswirkungen auf das Dasein der Menschen hat und nicht nur, was deren materielle Lebensverhältnisse betrifft.
Und wie gleicht doch das japanische Modell in wesentlichen strukturellen Bereichen dem europäischen, das wir zur Zeit erleben dürfen. Hier wie dort wurden mittels fehlgeleiteter Geldpolitik marode Banken gerettet bzw. weiter finanziert. Und daran ändern auch keine „Quoten-Pleiten“ in Italien oder sonst wo. Unrentable Unternehmen und ihre überforderten Unternehmenslenker werden über ihren tatsächlichen Bilanztod am Leben erhalten, ein paar der angestellten „Pleitiers“ werden verklagt, um dann gegen ein Trinkgeld an die Cote Azur oder ins Schweizer Asyl entlassen zu werden. Unser Rechtssystem ist für solche Belange, bei Insolvenzen oder anderen schädlichen Unternehmensentscheidungen nach Haftungsmissbrauch zu suchen, sie zu verurteilen, schwerlich, wenn nicht ganz ungeeignet – dazu später mehr.
In
Europa wie in Japan stellen wir eine äußerst berohliche
Immobilienblase in den wirtschaftlichen Ballungszentren fest. In
Hamburg, München, Paris und London, um nur einige zu nennen,
können Arbeiter und Angestellte der Mittelschicht Wohnungen kaum
mehr bezahlen, weder zur Miete noch in einem sinnvollen Zeitraum der
Kreditrückzahlung bei Kauf einer Immobilien.
Hier wie dort
wachsen die sozialen Verwerfungen durch viel zu extreme
Einkommensdifferenzierung. Hier wie dort schmelzen private Spar- und
Versicherungsvermögen zur Vermögens- und Alterssicherung
wie Speiseeis in der Hochsommersonne. Und wer garantiert, dass es
keine staatlich legitimierten und verordneten Zugriffe auf private
Immobilien- und Sparvermögen in Zukunft gibt?
Ausweg – visionär
Marx hatte die Idee einer menschlicheren Gesellschaft, die seiner kritischen Betrachtung der kapitalistischen Produktion zu einer Vision nach dem Fall der Profitrate verhalf. Er hoffte, wahrscheinlich war Marx sogar überzeugt davon, dass auf lange Sicht die Prozesse der Konzentration und mehr noch der Zentralisation bei Großunternehmen die Probleme der Akkumulation stärker werden lassen als bei KuMs.
Die Formel: je größer die Menge des angehäuften Kapitals desto stärker sinkt die Kapitalrentabilität mag zwar prinzipiell gelten, aber wir haben gesehen, dass dies nicht der tatsächlichen Entwicklung in der Vergangenheit, besonders der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg entsprach.
Ebenso ging es Marx nicht nur um die Überwindung der Kapitalwidersprüche, sondern auch um die Überwindung der damit verbundenen ideologischen Widersprüche, wie sie in der bürgerlichen Existenz und Gesellschaft auftreten. Marx fand in seiner Analyse der Arbeit heraus, dass der Mensch bei der Arbeit sowohl konkrete wie abstrakte Arbeit verrichtet, Arbeit also wie die Ware einen „Doppelcharakter“ besitzt.
Die konkrete Arbeit, so Marx, produziert qualitativ verschiedene Gebrauchswerte. Mit der konkreten Arbeit eignet sich der Mensch die Gegenstände der Natur zur Befriedigung seiner Bedürfnisse an. Hier stehe also der Mensch nicht als Einzel (Begriff der Privatarbeit)- oder Gruppenwesen im Fokus der Betrachtung, sondern die Bedürfnisbefriedigung des einzelnen Menschen wie die der Gruppe (Sippe oder andere Formen der Gemeinschaft).
Die abstrakte Arbeit produziert anders als die konkrete Arbeit Tauschwerte, wobei hier der Fokus weniger auf den Tauschvorgang als auf den Vorgang der Wertschöpfung liegt. Abstrakte Arbeit beinhaltet nach Marx ganz grundsätzlich und wesentlich eine Naturalisierung und Entindividualisierung menschlicher Arbeit. Naturalisierung insofern menschliche Arbeit reduziert wird auf die bloße „Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen Sinn“5, Entindividualisierung, insofern menschliche Arbeit im Sinne gesamtgesellschaftlicher Wertschöpfung auf das Maß gesellschaftlich notweniger Arbeitszeit reduziert wird.
Bleiben wir an dieser Stelle im ganz Allgemeinen solcher Denkansätze, so halten wir fest, dass Marx die Befreiung der menschlichen Arbeit allein in der Überwindung ihrer Entfremdung sieht. Also darin, dass Arbeit auf eine individuelle Wertschöpfung wieder zurückgeführt wird, die im Kapitalismus unmöglich ist. Im Sinne einer konkreten, individuellen Arbeit läßt sich der gesamte Arbeitsprozess auch als „zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bindung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens“6 verstehen.
Im Kapitalismus bleibt das Ergebnis der Arbeit, das Produkt, das Eigentum des Kapitalisten und nicht des unmittelbaren Produzenten, also des Arbeiters: „Der Kapitalist zahlt z.B. den Tageswert der Arbeitskraft. Ihr Gebrauch, wie der jeder andren Ware, z.B. eines Pferdes, das er für einen Tag gemietet, gehört ihm also für den Tag. Dem Käufer der Ware gehört der Gebrauch der Ware, und der Besitzer der Arbeitskraft gibt in der Tat nur den von ihm verkauften Gebrauchswert, indem er seine Arbeit gibt. Von dem Augenblicke, wo er in die Werkstätte des Kapitalisten trat, gehörte der Gebrauchswert seiner Arbeitskraft, also ihr Gebrauch, die Arbeit, dem Kapitalisten.“7
Hierin
sieht Marx den Kern der „Entfremdung“ menschlicher
Arbeit, denn durch den kapitalistischen Produktionsprozess
einschließlich der industriellen Arbeitsteilung wird der
Arbeiter zu einer Sache erniedrigt, naturalisiert. Das Produkt seiner
Arbeit wird ihm entzogen und ihm wird nur ein Teil des Gegenwertes
seiner Arbeit als Lohn ausbezahlt.
Seine Arbeit und mithin das von
dieser geschaffene Produkt gehört ihm also nicht mehr ganz, wird
entindividualisiert. Der Tauschwert schaffende Teil der menschlichen
Arbeit, also jener Teil, der mit der menschlichen Arbeit zwar
substanziell mit geschaffen wird, seinen wahren Wert aber erst in der
Wertschöpfung auf den Waren- bzw. Tauschmärkten erhält,
der „Mehrwert“, fließt dem Unternehmer zu.
Wollen wir also Marx nicht ganz aus den Augen verlieren, so halten wir für die folgenden Überlegungen fest: In der Vorstellung von Marx ist Arbeit bestimmt als individuelle Wertschöpfung. Der Wert ist ein Gebrauchswert zur Bedürfnisbefriedigung und dieser wird innerhalb der notwendigen Aneignung natürlicher Ressourcen durch den Menschen hervorgebracht.
Gleichwohl in dieser Bestimmung menschlicher Arbeit die Natur als Ressource aufgefasst wird, steht Natur nicht als ubiquitärer Verwertungszusammenhang der menschlichen Arbeit zur Verfügung. Verwertung und damit Verbrauch von natürlichen Ressourcen sind begrenzt in der Bedarfswelt menschlicher Bedürfnisse. Nach Marx ist eine Befreiung menschlicher Arbeit aus der Entfremdung durch kapitalistische Produktion demnach auch eine Rückkehr zur Gebrauchswertproduktion und damit zu einem zirkulär-dynamischen Prozess der Werschöpfung im Gegensatz zum expansiv-dynamischen Prozess der Tauschproduktion.
Der Mensch schießt demnach nur so viele Büffel, wie er und seine Sippe zur Subsistenzsicherung – und kleinerer kultureller Freuden – benötigt. Die Art und Weise, also der Produktionsprozess, wie Subsistenzwirtschaft bzw. die „Produktion des absoluten Mehrwerts“ grundsätzlich funktioniert, hat bei Marx sehr viel Nähe zu den Vorstellungen der antiken griechischen Philosophen, bis in einzelne Formulierungen hinein.
So bestimmt Marx den Begriff Arbeit im Geister der Antike wenn er schreibt: „Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seine Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt.“8
Zirkulär ist der Wertschöpfungsprozess auf dieser grundsätzlichen Ebene seiner Bestimmung insofern, als „im Arbeitsprozeß bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes. Der Prozess erlischt im Produkt. Sein Produkt ist ein Gebrauchswert, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff. Die Arbeit hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden. Sie ist vergegenständlicht, und der Gegenstand ist verarbeitet. Was auf seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf seiten des Produkts. Er hat gesponnen, und das Produkt ist ein Gespinst.“9
Dynamisch
ist der Wertschöpfungsprozess gleich grundsätzlich,
„betrachtet man den ganzen Prozess vom Standpunkt seines
Resultats, des Produkts, so erscheinen beide, Arbeitsmittel und
Arbeitsgegenstand, als Produktionsmittel und die Arbeit selbst als
produktive Arbeit.
Wenn ein Gebrauchswert als Produkt aus dem
Arbeitsprozeß herauskommt, gehn andre Gebrauchswerte, Produkte
früherer Arbeitsprozesse, als Produktionsmittel in ihn ein.
Derselbe Gebrauchswert, der das Produkt dieser, bildet das
Produktionsmittel jener Arbeit. Produkte sind daher nicht nur
Resultat, sondern zugleich Bedingung des Arbeitsprozesses.“10
Eine nicht-entfremdete Arbeit wäre also ganz grundsätzlich aus der Vorstellung bestimmt, eine nicht von der Bedürfnisbefriedigung im Sinner der Subsistenzerhaltung des Menschen als Einzel- und als gesellschaftliches Wesen getrennte Tätigkeit zu sein. Ihre geistige Entsprechung liegt demnach in einer, dieser Subsistenzwirtschaft innewohnenden Zweckrationalität.
Wir werden etwas weiter voran auf den homo oeconomicus bei Marx und in der modernen Ökonomik zurückkommen.
Nun aber bleibt kein anderer Weg als – den Ausweg von Marx im Gedächtnis zu behalten – in die weitere Vertiefung in jene gesellschaftlichen Verhältnisse, die als Begriff des Kapitalismus bzw. der Marktwirtschaft unser Denken und Handeln maßgeblich mit bestimmen. Und dabei ist das Feld auf dem sich Denk- und Handlungszusammenhänge überhaupt erst formieren bzw. final ergeben das Feld der Arbeit, dies allerdings in seiner konkret erlebbaren Struktur, dem Wettbewerb.
Wettbewerb vs. Konkurrenz
Die Bestimmung der Arbeit aus einer Idee ressourcenschonenden Umgangs mit der Natur ist verführerisch, zumal als eine Art Befreiungsteleologie, in der Mensch und Natur befriedet im Einklang miteinander leben. Marx war nicht so naiv zu glauben, dass Arbeit jemals wieder wie in Urzeiten im direkten Austausch mit der Natur vonstatten gehen könnte. Selbst bei Platon und Aristoteles stand zwischen Mensch und Natur noch der Oikos.
Als Marx den ersten Band des Kapitals zur Veröffentlichung vorlegte, waren die Volkswirtschaften von England und den USA bereits in weiten Bereichen fest in der Hand von Großindustriellen bzw. Monopolisten, damals in der New York Times als „Räuberbarone“ bezeichnet. Der erste Bestandteil des Begriffs bezog sich hauptsächlich auf die strikte Ablehnung einer Handlungs- und Denkweise, die die Entwicklung gesellschaftlichen Wohlstandes behinderte, ja blockierte.
Damals schon war die traditionelle Ökonomik übereingekommen, dass wirtschaftliches Handeln nur dann einen Sinn macht, wenn sich daraus auch eine Wohlstandsentwicklung erkennen lässt. John D. Rockefeller dominierte die Erdölindustrie, Andrew Carnegie die Stahlindustrie, J. P. Morgan die Banken. Sie trafen Absprachen, kauften kleine Unternehmen der jeweiligen Branchen auf, hebelten den Wettbewerb aus und diktierten schlussendlich die Preise in ihren Branchen.
In dieser Zeit wurde der Zusammenhang von Löhnen und Preisen in Relation zum Wettbewerb erkannt; und dies gilt bis heute. Wohlstandsentwicklung ist nicht möglich, wenn die Preise die Löhne auffressen. Und dies entscheidet sich in der Art und Weise, wie der Wettbewerb organisiert ist bzw. unter welchen Bedingungen Wettbewerb stattfindet.
Das Geschehen auf Märkten wurde wie jede Form der menschlichen Beziehung jahrhundertelang aus dem anthropologischen Axiom: der Mensch ist des Menschen Wolf betrachtet. Der Ausspruch: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge!“ wahrscheinlich der bekannteste Satz des griechischen Philosophen Heraklit,ist so bekannt wie dessen zahlreiche Abwandlungen wie etwa: „Am Anfang stand der Krieg“ oder „Im Krieg entwickeln sich alle wichtigen Dinge.“ Dabei hatte Heraklit etwas ganz anderes im Sinn, wenn er über die Polarität des Lebens zu sprechen begann.
Mit der Polarität des Lebens fand Heraklit eine Möglichkeit, den Prozess des Lebens vorstellbar zu machen. Vorgestellt vollzieht sich das Leben aus dem ständigen Wechselspiel von Gegensatzpaaren: Fröhlichkeit und Traurigkeit, Wärme und Kälte, Hunger und Sattheit, Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden etc. Diese Polarität ist eingeprägt in unsere Vorstellungen von unserem Leben. Ohne sie würden wir zwar leben, könnten das Leben aber nicht denken.
Nach Heraklit – wir haben ausführlich davon schon gehandelt – gehört diese Polarität zu unserem Leben, insofern wir Menschen sind, gehört zu unserem Logos wie die aristotelischen Kategorien oder, wie wir sagten, stehen in einem komplementären Verhältnis zu unserem Dasein und prägen die Möglichkeit, unser Leben bewusst zu erleben.
Nach Heraklit gilt: Das Gefühl für Sattheit habe ich erst, wenn ich das Gefühl des Hungers hatte. Das Gefühl für Gesundheit habe ich erst, wenn ich vorher krank war. Ich kann das Leben also erst erleben, wenn die Pole, die nur scheinbar im Widerspruch zueinander stehen, aufeinandertreffen. Und dieses ständige Ringen, die Auseinandersetzung, der Streit der Pole, der zum Erleben des Lebens führt, den bezeichnete Heraklit als Krieg. Und deshalb hat der Ausdruck Krieg in diesem Zusammenhang auch nichts mit Tod, grenzenlosem Leid, Zerstörung und Niedergang zu tun.
Mord und Todschlag als anthropologisches Axiom, als Wesenskern des Menschseins im Sinne von Macht über das Leben anderer Lebewesen, im Sinne eines unbedingten Willens und der grenzenlosen Verfügungsgewalt über die Natur fand historisch erst relativ spät in unsere Alltagswelt, wenn gleich auch schon der Homo faber der römischen Antike, kaum sich seiner selbst bewusst, auf den anderen, den Mitmenschen losgeht. Erst nach außen hin, dort wo er seine Feinde findet, dann auch nach innen ins eigene Staatswesen und Wirtschaftsleben. Die Lateiner nannten das concurrere, aufeinander rennen, was aber dort beizeiten noch keinen festen Kollisionskurs aller mit allen vorstellte.
Erst
am Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, dem Zeitalter
des „Kalten Krieges“ wurde der Krieg Vater dieses
Gedankens, dass nämlich wir, solange wir leben und uns erinnern
können, unter solchen Konkurrenzverhältnissen scheinbar
leben. Dass wir nämlich wegen allem und jedem aufeinander
losrennen: in der Wirtschaft, der Technik, der Kunst, im Sport, sogar
im Weltall.
Die große Konkurrenz zwischen West und Ost,
zwischen den Ideologien von Kommunismus, Sozialismus, freier
Marktwirtschaft und bürgerlicher Existenz, zwischen den
Anhängern des kapitalistischen und des kommunistischen Weltbilds
also, beherrschte politisches Denken und Handeln in einer Zeit, die
im Westen längst schon bestimmt war von der Transformation des
Industriekapitalismus zum Informations- und Kommunikationszeitalter,
zur Wissensökonomie, Digitalisierung und Globalisierung.
Wir betrachten an dieser Stelle aber vornehmlich den Wandel von einem Konkurrenz- zu einem Wettbewerbsdenken. Konkurrenz belebt das Geschäft war eine der höchsten Wirtschaftsweisheiten und steckte den Menschen zugleich tief in den Knochen. Und da es bei der Konkurrenz ja eo ipso immer um den anderen gleich mit geht – Konkurrenz mit sich selbst macht wenig Sinn – formulierte sich das Denken laut auch stets in der Kriegs-Polarität von Gut und Böse, von denen, die zu einer Gemeinschaft, einer Gruppe, einem Milieu, einer sozialen Schicht gehörten und den anderen, die nicht dazu gehörten. Am schlimmsten wog der latente, oft auch ausgfesprochene Vorwurf mangelnder Kompetenz, deren Folge ineffizientes Arbeiten das eine, mehr aber noch dessen Pendant, Unrentabilität war.
Anmerkungen:
1 Quantitative Easing wird eine geldpolitische Maßnahme bezeichnet, die darauf abzielt, die langfristigen Zinsen zu senken und zusätzliche Liquidität ins Bankensystem zu schleusen.
2 Klein- und mittelsträndige Unternehmen
3 "Mit ihrer Nullzinspolitik hat sie die Allokationsfunktion des Zinses außer Kraft gesetzt, sodass nicht mehr zwischen Investitionen mit hoher und niedriger Grenzleistungsfähigkeit getrennt wird. Da Ressourcen in Projekten mit geringen Renditen gebunden bleiben, werden weniger neue Investitionen mit hoher Rendite auf den Weg gebracht. Zombie-Banken hängen weiter am Tropf der EZB und subventionieren Zombie-Unternehmen, die ohne eine „nachsichtige Kreditvergabe“ nicht lebensfähig wären. So lähmt die Geldpolitik Investitionen, Innovationen, Produktivitätsgewinne und Wachstum, ähnlich wie es früher in den sozialistischen Planwirtschaften der Fall war." FAZ Gastbeitrag, 17.04.2016, von Hans-Werner Sinn und Gunther Schnabl
4 In Deutschland liegt der Anteil heute marginal darunter
5 MEW 23, S. 61
6 MEW 23, Dritter Abschnitt, S. 192 - 213
7 ebenda
8 ebenda S. 193
9 ebenda S. 195
10 ebenda S. 196
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